Lutzenberg, Erziehungsanstalt Lärchenheim

Kommentar

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Meine Babyjahre im Lärchenheim

Meine Mutter verstarb im Dezember 2013 an Krebs. Leider hat sie mir fast nichts über ihre Zeit vom Lärchenheim erzählt. Nur häppchenweise sprach sie mal dieses oder jenes Detail aus.

Im Dezember 1965 wurde ich im Spital Heiden AR geboren. War von Geburt an ein Heimkind aus dem Lärchenheim. Was meine ersten Lebensjahre betrifft, hat man mich lange angelogen. Mit 13 Jahren erfuhr ich von einer Freundin, dass mein Vater nicht mein richtiger Vater ist. Das etwas zwischen uns nicht stimmt, spürte ich schon immer. Wenn ich zufällig Bilder aus meiner Baby-Zeit zu sehen bekam, dann hat man mir irgendwelche Geschichten erzählt.

Meine Mutter (Jg 1948) wurde mit mir schwanger als sie fast 17Jahre alt war. Ihre Kindheit war alles andere als einfach und schön. Darüber hat sie wenig gesprochen. Die ersten Jahre in der Schweiz lebte sie mit ihrem Stiefvater (Schweizer) und ihrer Mutter (Deutsche) in Basel. Sie war ca. 10 Jahre alt als sie in die Schweiz gekommen ist. Meine Mutter wurde aufgrund ihrer Schwangerschaft und den nicht optimalen Familienverhältnissen in die Erziehungsanstalt Lärchenheim gesteckt. Sie musste in einer Fabrik in Wolfhalden wo Gürtel hergestellt wurden arbeiten. Die Firma existiert heute noch. Sie arbeitete auch als Putzhilfe im Kinderheim zum Andwiler in Thal oder für einen Bauer zum Erdbeeren ablesen.

Während ihres Aufenthaltes im Lärchenheim wurde ich geboren. Aus Erzählungen weiss ich, dass ich als Kleinkind von einer Pflegerin geplagt worden bin. Sie soll mich oft in ein dunkles Zimmer gesperrt haben. Ich hatte seit ich denken kann Angst vor Dunkelheit, vor allem wenn ich alleine in einem geschlossenen dunklen Raum schlafen musste. Lange, lange Jahre war meine Schlafzimmertür ein Spalt offen, wenn ich alleine drin lag. Erst heute bin ich in der Lage, mit gutem Gefühl alleine in einem geschlossenen Raum zu schlafen. Ausserdem hatte ich bis in den Kindergarten hinein oft Probleme bei Tag und Nacht was dass auf die Toilette gehen angeht. Das schaffte natürlich zusätzlich Probleme mit meiner Mutter.

Ich weiss nicht genau, wann meine Mutter das Lärchenheim verliess. Jedenfalls blieb ich noch weiter da, als sie fort ging. Mit 20 Jahren gebar sie meine Halbschwester. Inzwischen war sie verheiratet mit dem Vater meiner Halbschwester. Ihn lernte sie in Thal kennen, während der Erdbeerernte. Eine Frau, die im Lärchenheim für Pferde zuständig war, gab meiner Mutter den inständigen Rat mich aus dem Heim zu nehmen, da ich dort geplagt werde. Ich schätze, dass mich meine Mutter im Alter von ca. 3½ Jahren aus dem Heim nahm.

Meine Mutter konnte mich nicht lieben, wie man normalerweise sein Kind liebt. Das spürte ich sehr und war bedacht ein liebes Kind zu sein, um ihr zu gefallen. Leider war mein Charakter nicht bestimmt zu kuschen ohne zu bocken und so erlebten wir ständig Konflikte. Es gelang ihr bis zum Ende nicht, mir Liebe entgegenzubringen. Sie war keine einfache Frau, dem stimmte auch mein Stiefvater zu. Er hatte es mit ihr ebenfalls nicht leicht. Mein Stiefvater verstarb nur sieben Wochen nach meiner Mutter. Er konnte mir auch nicht viel über die Zeit im Heim sagen.

Einmal erzählte mir meine Mutter, dass die Frau des Chefs von der Gürtelfabrik/Wolfhalden sie zum Kaffee eingeladen habe in ihre Wohnung. Während des Gesprächs kam heraus, dass die Frau mich gerne adoptieren würde. Meine Mutter sagte ihr, es wäre zu spät, da hätte sie früher kommen müssen, jetzt wolle sie mich behalten. Die Frau versuchte es noch einige Male, aber meine Mutter blieb bei ihrer ersten Entscheidung.

Ein Jahr vor ihrem Tod sprach meine Mutter das Thema an und sagt mir, (vor meinem Mann und meinem Stiefvater), vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie mich zur Adoption freigegeben hätte. Leider gab sie mir insgeheim die Schuld für all die unschönen Jahre innerhalb der Familie. Meine eigene Kindheit bestand aus physischer und psychischer Gewalt von beiden Elternteilen. Ich rebellierte Jahr für Jahr mehr gegen meine Mutter und meinen Stiefvater. Sie dachte wohl, wenn ich nicht gewesen wäre, dann hätte das Familienleben anders ausgesehen. Die letzten 20 Jahre ihres Lebens wurde sie….ich nenne es mal so…dezente Alkoholikerin.

Immer mal wieder schaue ich Bilder aus der Zeit im Heim an. Ich selber wirke auf mich fremd. Fühle keinen richtigen Zugang zu meinem Kleinkind sein. Es existieren auch kaum Babybilder. Meine Mutter wirkt auf keinem froh und glücklich. Ich besitze heute noch eine kleine blau-weisse Babydecke aus dem Lärchenheim mit der angenähten Nummer 52. Ein Stück Vergangenheit, die irgendwie eine Verbindung zu Baby Julia schafft. Meine Mutter schenkte sie mir, als ich selber mit 17 Jahren meine erste Tochter bekam.

***
Vor vielen Monaten hatte ich nachts einen Traum.
Ich und meine Mutter sitzen uns gegenüber an einem alten grossen Holztisch. Eine kegelförmige Lampe beleuchtet uns. Das Licht ist schummrig. Der restliche Raum ist verdunkelt. Der Tisch und der Boden sind staubig. Meine Mutter schiebt mir eine dicke alte Papiermappe rüber. Sie bat mich alles zu lesen, damit ich weiss, was wirklich war.

…seither denke ich immer mal wieder an meine Babyjahre im Lärchenheim. Von denen ich im Grunde nichts weiss.

Liebe Grüsse
Julia

Julia65
28.04.2015

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