Das unmenschliche Verdingkindersystem, das schon Jeremias Gotthelf im Jahr 1837 anprangerte, hielt sich in der Schweiz bis in die 1970er Jahre. Die Kinderarbeit hingegen wurde in den Fabriken hierzulande 1877 verboten. Bis in die 1930er Jahre wurden kleine «Spazzacamini» aus dem Tessin und anderen Alpentälern als Kindersklaven zur Reinigung von Kaminen in Oberitalien und Frankreich eingesetzt.
Ein Grossteil der Kinder aus der Minderheit der Jenischen wurde von 1926 bis 1973 vom so genannten «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute systematisch und gewaltsam aus ihren Familien gerissen. Sie wurden isoliert in Heimen, als Verdingkinder oder als Adoptivkinder fremdplatziert, um sie von ihrer Herkunftskultur zu entfremden.
Weggesperrt ohne Gerichtsurteil – mit Unterstützung von Kantonen und Privaten
Mitbeteiligt an dieser Aktion waren auch der Kanton Schwyz und die Seraphischen Liebeswerke Solothurn, Zug, Luzern und Graubünden. Wegen heute gesellschaftlich akzeptierter Verhaltensweisen wie Schminken, nächtlicher Ausgang in Tanzlokale oder frühe Freundschaften, wurden bis zur Aufhebung der menschenrechtswidrigen Gesetze zur administrativen Versorgung im Jahr 1981, viele Jugendliche ohne Gerichtsurteil jahrelang in Strafanstalten gesperrt.
Die Jugendlichen kamen beispielsweise ins Frauenzuchthaus Hindelbank, aber auch in viele andere Strafanstalten und Zwangsarbeitsanstalten wie Bellechasse, Witzwil, St. Johannsen, Schachen Deitingen, Kappel, Rossau, Kaltbach, Bitzi, Kalchrain, Kreckelhof oder Realta. Dort waren auch viele Erwachsene administrativ interniert. Die administrativ Internierten und die meisten Verding- und Heimkinder mussten unter Zwang und Schikanen ohne Lohn harte Arbeit leisten. Oft litten die Gesundheit und die Ausbildung der Betroffenen darunter.
Heime und Erziehungsanstalten als Tabu für Gesellschaft und Wissenschaft
Die Geschichte von Heimen und Erziehungsanstalten war ebenso wie die Geschichte der Verdingkinder ein Tabuthema, dem die Sozialgeschichtsschreibung lange auswich. Es war überwiegend ein Kreis von Insider:innen, Behördenmitgliedern, Institutionsleiter:innen, Sozialpädagog:innen oder Kinderpsychiater:innen, welcher sich aus der eigenen Sicht heraus in Jubiläumsschriften und Fachartikeln äusserte.
Dem stehen die Berichte von ehemaligen Heim-, Pflege- und Verdingkindern gegenüber. Viele von ihnen schrieben ihre Autobiografien, doch war es oft schwierig, einen Verlag dafür zu finden. Viele dieser authentischen Berichte wurden im Selbstverlag herausgegeben. Andere erschienen in Zeitungen, oder es waren Journalist:innen und Filmemacher:innen, die solche Lebensgeschichten dokumentierten.
Erst Anfang 2000 hat die Sozialgeschichte die Geschichte des Armenwesens, der Kinderheime und anderer Institutionen des Sozialbereichs als Thema von grosser Tragweite erkannt. Es wurden dazu einige Forschungsprojekte gestartet und viele Arbeiten an verschiedenen Universitäten geschrieben. Es waren vor allem auch Organisationen von Betroffenen sowie einzelne Medien, die zu dieser Entwicklung beitrugen.