Heiden, jüd. Kinderheim Wartheim

Wurde vom israelitischen Frauenverein Zürich geführt

Das Kinderheim Wartheim war seit Ende der 1920er Jahre zunächst ein jüd. Ferien- und Erholungsheim in der Schweiz, dann während dem 2. Weltkrieg ein Heim für Kinder aus verfolgten jüdischen Familien. Nach dem Krieg diente das Kinderheim Wartheim als ein Domizil zur Genesung für jüdische Kriegswaisen und kranker Kinder die Konzentrationslager und NS-Verfolgung überlebt hatten. Es entwickelte sich bis Mitte der 1980er Jahre zu einem Heim um meist deutsche Kinder aus zerrütteten Familien im Sinne des jüdischen Glauben und religöser Tradition zu erziehen.

Kommentar

Diese Liste war ursprünglich als Forum aufgesetzt. Sie finden hier einzelne Kommentare und Dialoge von Betroffenen oder anderen Interessierten.

Austausch zwischen ehemaligen Heimkindern und einem ehemaligen Heimleiter

Das Kinderheim Wartheim war seit Ende der 1920er Jahre zunächst ein jüd. Ferien- und Erholungsheim in der Schweiz, dann während dem 2. Weltkrieg ein Heim für Kinder aus verfolgten jüdischen Familien. Nach dem Krieg diente das Kinderheim Wartheim als ein Domizil zur Genesung für jüdische Kriegswaisen und kranker Kinder die Konzentrationslager und NS-Verfolgung überlebt hatten. Es entwickelte sich bis Mitte der 1980er Jahre zu einem Heim um meist deutsche Kinder aus zerrütteten Familien im Sinne des jüdischen Glauben und religöser Tradition zu erziehen.

Ich war von 1974-78 in diesem Heim, mit 8 Jahren kam ich wegen Trennung meiner Eltern aus Berlin in die Schweiz ins Kinderheim Wartheim. Meine lange verdrängten Erinnerungen sind sehr finster. Heimleiter war ein Herr Krull, den man auf hebräisch «Aba» also Vater nennen musste. Er wollte nach Aussen eine väterliche Bindung vorhäucheln, es war aber alles andere als das, grausam! 1974 änderte sich mein bis dahin gut behütetes Leben schlagartig. So lernte ich früh was es hiess der sadistischen Willkür einer Art Diktator unterworfen zu sein. Körperliche Strafen und psychische Demütigungen waren an der Tagesordnung. So lebten wir Kinder (vor allem wir Jungen) in ständiger Angst vor Ohrfeigen und Schlägen bei Fehlverhalten. Auch besonders schrecklich waren die psychischen Demütigungen. So war allgemein bekannt, das der Heimleiter sich daran ergötzte wenn er als Strafe des «sitzen» an den Kindern durchführte.

«Sitzen» mußte man bei besonderen Verfehlungen auf einer kleinen Treppe die vom Hauptgebäude zum privaten Teil des Heimes führte in dem der Heimleiter mit seinem Sohn lebte.
Ich erinnere mich an stundenlanges, manchmal nächtelanges «sitzen» in aufrechter Haltung auf der Treppe, nur mit Unterhose. Man durfte sich nicht bewegen und mußte bei Androhung von Schlägen stundenlang schweigen. Am Ende der Treppe war der Zugang zu seinem privaten Wohnraum, von dem er direkten Blick auf die Strafe «sitzenden» Kinder hatte, während er Fernsehen schaute und sich nebenbei nächtelange Patiencen (Karten) legte. Ich haben unzählige Nächte dort Strafe absitzen müssen, zunächst weil ich vor Heimweh ständig weinte und und zur besseren Überwachung in seiner Sichtweite war. Oft waren von diesem Attacken der Bestrafung auch mehrere Kinder gleichzeitig betroffen. Blickkontakt oder flüstern untereinander wurden dann sofort mit harten Ohrfeigen und Androhung auf weiterer solcher Nächte geahndet. Als ich einmal mit 10 Jahren wegen wiederholtem Bettnässen «sitzen» musste und mir dann auch noch während der Strafe in die Hose machte, hatte dies zur folge das ich nach einer Tracht Schläge, zunächst die ganze Nacht nass sitzen musste und daraufhin die folgende Woche jede Nacht sein Gast auf der Treppe war.

Von den Erziehern ging keine körperliche Gewalt aus, Vorfälle wurden aber an den Heimleiter weitergetragen und dann hauptsächlich Abends und Nachts durch ihn selber diszipliniert (wenn die meisten anderen Kinder zu Bett waren). Man wurde nach Beginn der Nachtruhe von ihm einem sehr kräftigen, fülligen Mann aus dem Bett, bzw. Zimmer geholt, was bei mir früh ein Angstgefühl vor den Abendstunden auslöste. Ich höre heute noch seine schweren schlurfenden Schritte vor meinem Schlafzimmer, wenn es ganz still ist. Da ich seit damals Stille kaum ertragen kann, lasse ich bis heute im Hintergrund ein Radio oder TV-Gerät laufen. Sicherlich war man als Kind nicht ohne Fehler und so machte jedes Kind seine individuellen Erfahrungen mit Situationen und Begebenheiten für die es dann als Folge strenge Strafen gab.

Ich weiss noch, als ich mir während ich in der 5. Klasse war, von meinem Taschengeld heimlich meine erste Schachtel Zigaretten kaufte. Ich kann mich an jede Szene gut entsinnen. So war meine erste Zigarettenpackung eine gelbe «Mary Long» die ich mit zwei anderen Heimkindern heimlich unter der Liegehalle (einem Nebengebäude) aus Neugier rauchte. Der Qualm und lautes Husten blieb natürlich nicht lange unbemerkt und ich wurde erwischt. Die Anderen konnten entwischen, ich roch natürlich durch den Qualm wie ein geräucherter Hering. Der stämmige Heimleiter Krull schlug mir mit voller Wucht ins Gesicht und zwang mich unter lautem Beschimpfen sofort die ganze Schachtel Zigaretten zu Ende zu rauchen. Ich schaffte etwa 10 Zigaretten, dann mußte ich mich übergeben. Er schrie mich während dessen pausenlos hysterisch an, ob es das ist was ich mir vom rauchen erhofft hatte. Ich durfte in dieser Nacht nicht ins Haus. Nachdem ich die Nacht im Garten verbracht hatte, es war im Herbst, kühl, wurde ich den ganzen folgenden Tag vom den Mahlzeiten ausgeschlossen.

Ein weiteres Beispiel für den Sadismus des Heimleiters war auch eine andere schreckliche Situation: Ein Gleichaltriger, er hieß mit Vornamen Gil stahl in einer Nacht aus der Speisekammer eine Tüte Eiscreme und wurde erwischt. Ich habe die Schreie, Schläge und drastische Bestrafung noch genau im Ohr. Er mußte die gesamte Kühltruhe leer essen, es war für uns die wir diesmal nicht betroffen waren fast genauso schlimm das heulen, wimmern und betteln von Gil zu hören. Dieser Vorfall zog sich über die ganze Nacht.

Ich könnte noch etliche ähnlicher Vorfalle schildern, weil es auch vorkam das Kinder wegliefen, aufgefunden wurden und danach das reinste Martyrium erlebten. Das würde jedoch den Rahmen sprengen. Ich habe 4 Jahre in diesem Heim verbracht und 4 Jahre meiner Kindheit damit verbracht mir zu überlegen wie ich mich umbringe, weil ich keinen Ausweg sah. Irgendwie habe ich wohl überlebt, meine Mutter und meine Familie glaubte mir die Geschichten damals nicht. So grausame Geschichten wären eine Erfindung, bzw. Phantasie in der Pubertät. Als ich dann etwa 1978 mit ca. 13 meiner Mutter wiederholt und unmissverständlich drohte mich umzubringen wenn ich nicht dort wegkomme, wurde ich durch den damaligen amtl. Vormund aus dem Heim genommen. Zwar vorerst in ein anderes Heim, aber ich hatte Glück dem dortigen, täglichen Alptraum entkommen zu sein.

Soweit ich recharchiert habe, ist das Heim 1986 geschlossen worden. Der Heimleiter Herr Krull wurde um 1977 gegen einen neuen Heimleiter Herrn Wiener und Gattin ausgetauscht. Leider weiss ich bis heute die Gründe für den Wechsel nicht, die Vermutung das es an den Erziehungsmethoden des Heimleiters lag, liegt natürlich nahe.

Als Kind einer jüdischen Mutter und dann als Heimkind in einem traditionell religiösem Heim, wurde mir von verschiedenen Seiten früh zu verstehen gegeben das nach dem ganzen Trauma der Judenverfolgung, es so etwas in einer jüdischen Einrichtung nicht geben kann. Meine damals noch sehr junge Mutter wollte sich nicht beschweren oder weiter darüber reden, weil es sich schon wegen der Religion nicht gehöre in der jüd. Gemeinschaft Unruhe zu stiften und schließlich ja für mich alles vorbei wäre. Es war ihr auch sicherlich peinlich mich weggegeben zu haben und eigenes Versagen einzuräumen. Aber eigentlich glaubte sie mir nicht was dort vorging und auch ich versuchte danach einfach alles zu vergessen. Es war ja vorbei, nur nicht für die Anderen Kinder.
Es ist auch heute schwer jemanden zu finden um sich offen auszutauschen, da Aufgrund der besonderen Brisanz und Stigmatisierung aus der Verfolgung etwas gegen Juden oder jüd. Einrichtungen zu sagen, da sich keiner traut Kritik zu üben. Kritik würde sofort als antisemitisch empfunden, das macht die Angelegenheit natürlich besonders schwer. Aber da ich selber jüdisch bin und solche Missstände religionsübergreifend waren, also nicht im geringsten etwas mit Antisemetismus zu tun haben, habe ich mich unter psychoterapheutischer Hilfe entschlossen nach über 38 Jahren schweigen, das Thema aufzuarbeiten um mein Trauma, meine Verlustängste und Alpträume aus dieser Zeit zu verarbeiten.

Vielleicht erkennt sich jemand in meiner Geschichte wieder, ich suche Betroffene die in den 70’er Jahren auch Heimkinder im Wartheim in Heiden waren und ähnliche Erlebnisse hatten. Leider weiss ich fast nur noch Vornamen…

Da wir im Kinderheim Wartheim zum größten Teil als deutsche Kinder in der Schweiz untergebracht waren, ist es schwer eine Anlaufstelle die zuständig ist zu finden. Deutsche Anlaufstellen können nicht helfen weil der Ort des Heimes in der Schweiz lag. Als Deutscher ist es kompliziert zuständige Anlaufstellen in der Schweiz zu finden. Man steht quasi traumatisiert zwischen den Stühlen!

Rene64
20.03.2013

 

Ich fuehle mit. Ich war auch 10 Jahre in einem Kinderheim in Luzern. Aber frueher.

isa
24.03.2013

 

Ich war von Ende der sechziger bis 75 im Wartheim – Dein Bericht ist eine Ansammlung von Dichtung und Wahrheit. Deine Schilderungen kann ich so nicht stehen lassen – zielen Sie auf perfider Art auf reine Diskreditierung von Hr. (Aba) Krul hin. Sicher war es schwierig – aber wo sind Pubertierende nicht einfach 😉
Da ich wohl ‘knapp’ vor Dir im Wartheim war, kann ich lediglich feststellen, das es für mich ‘klasse’ war (ohne auf Details) einzugehen – wenngleich mein ‘Abgang’ nicht in beidseitigem Interesse war.
Da ich aber im Anschluss nach meinen Abgang in sehr engem Kontakt, zumindest mit den Älteren stand, kann ich Dein ‘Erlebtes’ in dieser Form nicht bestätigen.

Gruss Grönland

Grönland
10.07.2013

 

Ich habe 1976, als damals sehr junger Psychologe, das Wartheim mit meiner damaligen Frau Kathrin übernommen. In einem ausführlichen Bericht in diesem Forum wurden die ‘Untaten’ meines Vorgängers ‘Aba Krul’ erwähnt. Als ich das Heim mit allen ca. 18 damals in Heiden lebenden Kindern übernahm, war es in der Tat in einem desolaten Zustand. Mein Vorgänger, seit einiger Zeit verwittwet, führte das Heim nicht optimal. Auch hörte ich von einigen Kindern, dass seine Erziehungsmethoden nicht kindgerecht waren. Doch die Schilderungen, welche in diesem Forum über Herrn Krul gemacht wurden, scheinen mir masslos übertrieben zu sein.
Ich hatte, als damals 26 Jahre alter und somit jüngster Heimleiter der Schweiz, auch so meine liebe Mühe, mit den tw. sehr auffälligen Verhaltensweisen der mir anvertrauten Kinder klar zu kommen. Aber ich kann nicht bestätigen, dass ich Kinder angetroffen habe, die von meinem Vorgänger massiv traumatisiert waren. In Zusammenarbeit mit dem KJPD (Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst St. Gallen) sowie mit namhaften Fachkräften aus Zürich gelang es uns in kurzer Zeit, aus dem konzeptlosen Heim eine therapeutische Einrichtung mit eigener Sonderschule zu entwickeln. Sowohl die Trägerschaft wie auch alle neuen, von mir eingestellten MitarbeiterInnen halfen dabei, das anspruchsvolle Konzept zu verwirklichen. Das Wartheim wurde von 1976 bis zu meinem Abgang 1983 als therapeutisches Kinder- und Jugendheim von allen Sozialämtern in der Schweiz und im Ausland anerkannt und unterstützt. Im grossen und ganzen gibt es hunderte von Ehemaligen, die sich mit positiven Gefühlen an Heiden erinnern (s. hierzu auch das Buch von Alfred Häsler über Ruth Westheimer, welche einen Teil ihrer Jugend im Wartheim Heiden verbracht hat). Der in diesem Forum vorliegende Bericht mag zwar die von dem Verfasser gemachten, subjektiven Erfahrungen wiederspiegeln, kann aber von mir als ‘Insider’ nicht in dieser harten Form bestätigt werden. Das Heim wurde nach meinem Ausscheiden von einem Israelischen Ehepaar noch weitere 5 Jahre geführt, bevor es 1988 seine Pforten für immer schloss. Heute ist das Wartheim in baulich ähnlicher Form, als Mehrfamilienhaus bewohnt.
Dr. Harry Wiener, ehemaliger Leiter des Wartheim Heiden

Harwie
11.01.2016

 

Sehr geehrter Herr Wiener,
ich zolle Ihnen meinen höchsten Respekt das Sie persönlich Stellung beziehen! Aber nach über 40 Jahren meine schrecklichen Erlebnissen als schutzbefohlenes und betroffenes Kind unter Ihrem Vorgänger zu verharmlosen so wie alles Geschehene so zu relativieren und zu verharmlosen, als würde ich die bewusst die Unwahrheit schildern ist schon eine echte Unverschämtheit.
Ich gebe Ihnen absolut recht, das sich damals nach Ihrer Übernahme der Heimleitung vieles deutlich verbessert hatte und das Sie und Ihre Frau stets bemüht waren eine sehr familiäre Atmosphäre für uns Kinder zu schaffen.

Dennoch wurde vieles unter den Teppich gekehrt! Vor allem wenn wie Sie zugeben der desolate Zustand und die fürchterliche Führung des Kinderheimes unter Herrn Krul bekannt war. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals im Anschluss unter Ihrer Leitung zu den Schikanen, Misshandlungen und meinen schrecklichen Erlebnissen unter Ihrem Vorgänger befragt worden zu sein. Auch wurde ich unter Ihrer Leitung nie von einem offiziellen Psychotherapeuten, Psychiater, der benannten Jugendbehörde St. Gallen oder einer anderen Institution zu der damaligen Situation befragt oder fachpsychologisch betreut. Es gab dann unter Ihrer Leitung sicherlich fachkundige und kompetente neue Erzieher aber davon das eventuelle Traumata aus der Zeit vor Ihnen aufgearbeitet wurden, kann nicht die Rede sein! Auch kann ich während meines Aufenthaltes und Ihrer Leitung keine hauseigene Sonderschule bestätigen, da wir alle Kinder täglich in die örtliche Schule nach Heiden laufen mussten. Ob sich das nach meiner Zeit geändert hat, kann ich nicht beurteilen.

Als deutsche Heiminder in der Schweiz hatten wir damals nie wirklich eine Lobby und sicher wurde der Zustand der Situation in den 70er Jahren von offizieller Seite anders bewertet als heute. Dahingehend ist Ihnen vielleicht als nachfolgender junger Heimleiter soweit ich weiss damals noch ohne Doktortitel aber mit viel Aktionismus kein Vorwurf zu machen. Dennoch waren Sie weder dabei als die Übergriffe und Misshandlungen stattfanden, noch waren Sie selbst ein betroffenes Kind um sich eine Einschätzung der Vorkommnisse unter Ihrem Vorgänger als folgender Heimleiter nachträglich anzumaßen! Vor allem nicht zu verharmlosen, darauf lege ich ganz besonderen Wert. Eine Bewertung könnte allenfalls durch eine neutrale Person erfolgen welche die alle Opfer der damaligen Zeit unter Herrn Krul befragt hätte oder befragen würde.

Ich hatte ich den gesamten Zeitraum, den ich im Wertheim Heiden verbracht hatte immer schreckliche Angstzustände und permanente Selbstmordgedanken als Kind und habe bis in die Pubertät, selbst nach der Zeit im Wartheim bei Stresssituationen im Bett Nachts eingenässt. Mich verfolgen diese Traumata unter Heimleiter Krul noch bis heute!

Ich kann Ihnen auch aus dem Stehgreif min. noch 4-5 Namen anderer Kinder nennen denen gleiches und ähnliches wie von mir geschildert wurde, unter Ihrerm Vorgänger widerfahren ist! Natürlich waren unter dem Heimleiter Herrn Krul auch nicht alle anvertrauten Kinder gleich betroffen, da es auch sehr abhängig davon war inwiefern überhaupt noch Eltern der Heimkinder aus Deutschland vorhanden waren. Heimkinder deren Eltern gestorben waren oder die zu ihren Eltern kaum Kontakt hatten waren dem Herrn Krul damals quasi ohne Schutz einer höheren Instanz ausgeliefert und das hat dieser auch schamlos ausgenutzt!

Auch wenn ich Sie persönlich sehr mochte und Ihnen nichts vorzuwerfen ist, wissen Sie als Pädagoge und Doktor auch wie lange es braucht das ein traumarisiertes Kind eine Stimme findet sich auszudrücken. Dazu kommt die jeweilige soziale Situation und mentale Verfassung. Mir ist das erst nach einer umfassenden Psychotherapie als Erwachsener gelungen. Darum habe ich es als Notwendig erachtet, meine Erlebnisse alleine schon wegen der Aufarbeitung dieses Traumas hier zu schildern!

Rene64
14.01.2016

 

Lieber Rene

Ich war von April 1975 bis April 1977 mit dir im Kinderheim Wartheim und erinnere mich gut an dich. Deine Darstellung hat mich sehr bewegt.

Was du schreibst stimmt, detailgetreu. Ich war nicht dabei, als du bis zur «Einsicht» Eis essen oder rauchen musstest. Ich habe es am Folgetag von den anderen Kindern genau so gehört, wie du es beschreibst. Es tut mir sehr leid, dass dir das passiert ist und für das Leid, dass dir aus dieser Zeit entstanden ist !

Die von dir beschriebene «Lektion» ist aus Sicht des Anwenders ein pragmatisches Erziehungsmittel. Beim Opfer hinterlässt es ein Trauma. Die Form mit der Herr Krul (Heimleiter) das an einem Kind anwendet ist selbstverständlich nicht zu entschuldigen. Als er dir das angetan hat, war er in seinem letzten Jahr als Heimleiter. Ich habe ihn als müden, zurückgezogenen Mann erlebt, der Heimleitung überdrüssig. Unverständlich, weshalb die Trägerschaft nicht früher reagiert hat und man die Kinder während Jahren einer Person anvertraut hat, welche den Aufgaben offensichtlich nicht mehr richtig nachgekommen ist.

Seine Nachfolger, Herr und Frau Wiener, haben frischen Wind ins Heim gebracht und in der Tat vieles professionalisiert. Aber selbst wenn das Kinderheim später zum weltbesten Kinderheim mutiert wäre, darf kein einzelnes Schicksal einfach unter den Tisch gekehrt werden. Die Qualität von Kinderheimen lässt sich nicht messen. Das einem Heim namhafte Fachkräfte aus Zürich oder der KJPD aus St. Gallen zur Verfügung stehen, sagt absolut nichts über die den Kindern zukommende menschliche Güte aus. Wie der Name sagt, sollte ein Kinderheim ein Heim für Kinder sein. In einem Heim finden Kinder Geborgenheit, Sicherheit, Fürsorge und Hilfe, aus denen ihnen Kraft und Mut für das ganze Leben entstehen soll. Wenn ein Mensch seine Mutlosigkeit, Verzweiflung und Selbstzweifel mehrheitlich auf einzelne Erlebnisse als Kind zurückführt (wie du), dann war damals eben etwas offensichtlich nicht in Ordnung. Es ist eine der Absichten der Guido-Fluri Stiftung, genau diese, von Herrn Wiener als «subjektive Erfahrung» abgewertete Unordnung ans Licht zu bringen. Die Authentizität von deinem Beitrag ist deshalb stärker zu gewichten, als all die sich auf amtliche und professionelle abstütztenden Beschönigungen. Dein Schrei ist unüberhörbar.

Deine Schilderungen sind nicht übertrieben. Es war exakt so, wie du es beschreibt.

Unglaublich finde ich Herrn Wiener’s Satz: «ich kann nicht bestätigen, dass ich Kinder angetroffen habe, die von meinem Vorgänger massiv traumatisiert waren». Meint er damit, es gab Kinder die zwar traumatisiert waren, dieser Umstand aber nicht auf den Vorgänger zurückzuführen ist ? Oder meint er, es gab Kinder die traumatisiert, aber nicht massiv traumatisiert waren ? Die seelischen Verletzungen dieser Kinder haben der Koch, die Waschfrau, die Saubermachfrau und der Milchmann mitbekommen. Aus Gesprächen von damals weiss ich, dass sie keinem Praktikanten (Pädagogen) verborgen waren. Weshalb sie der Heimleiter (dipl. Psychologe) nicht bestätigen kann, erstaunt. Deine Worte entsprechen der Wahrheit. Natürlich sind es subjektive Erfahrungen (welche Erfahrung ist denn nicht subjektiv ?). Genau deshalb sind sie authentisch.

Überhaupt irritiert mich das «wegschauen» von Herrn Wiener. Die Hunderte von Ehemaligen, die die sich mit positiven Gefühlen an das Kinderheim Heiden erinnern, entschuldigen doch nicht das Unrecht, dass dir und anderen Kindern – willentlich oder nicht – angetan wurde. Als 8-jähriger Junge hättest du Herrn Krul als echten Aba (hebr. Vater) an deiner Seite, und nicht als dein Feind gebraucht. Ich erinnere mich an ihn so wie du ihn beschreibst, erinnere mich aber auch an seine beschützenden und gerechten Seiten.

Lieber Rene, ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du das Erlebte letztendlich zum Guten verarbeiten kannst. So wie ich mich an dich erinnere, hast du dich im Kinderheim oft für das Recht der anderen Kinder engagiert. Der blonde Rene aus Berlin hat gerne Theater gespielt. Du hast das Spiel mit der Gruppe gesucht. Heimleiter Krul hat dir gegenüber Fehler gemacht, für die er dich um Verzeihung bitten müsste (was leider nicht mehr möglich ist). Niemand wird die Verantwortung für diese Fehler übernehmen wollen (können). Die Tragweite der Fehler, die können veranschaulicht, an andere vermittelt werden. Du kämpfst auch für andere Kinder, damit ihnen solches Unrecht nicht geschehen soll.

Mit deinem Beitrag hast du einen mutigen, wichtigen und richtigen Schritt gemacht, für dich und für andere.

Danke !

alain1960
10.05.2016

 

Lieber Rene,
ich war von 1977-1983 im Wartheim. Leider kann ich mich an dich nicht mehr erinnern aber wohl an Alain. Ich bin die Schwester von dem in deinem Bericht erwähntem Gil.
Es schockiert mich zutiefst was ich da lesen muss. Gil hat mit mir nie darüber gesprochen. Ich musste solche Erfahrungen zum Glück nie machen. Bei mir wurden eher so Strafen wie Ausgangsverbot erteilt usw.
Ich hoffe sehr das du mittlerweile ein angenehmes Leben führst und das ganze irgendwann hinter dir lassen kannst.
Mein Bruder hat das leider nicht geschafft. Er hat nie seinen Platz im Leben gefunden und ist vor 20 Jahren gestorben 🙁 .
Dir Rene wünsche ich alles Gute.
LG
Sigal

sigal65
30.01.2017

 

Lieber Rene
Ich war 1973-77 zusammen mit Dir im Wartheim. Dein Bericht hat mich sehr betroffen gemacht. Auch mir tut es leid, dass Du solche Erinnerungen an Heiden hast. Ich möchte mit den folgenden Zeilen Deinen Sicht und Deine Erlebnisse auch nicht in Frage stellen. Dennoch habe ich auch andere Erinnerungen. Ich habe nie erlebt, dass Krull eines der Kinder geschlagen hätte und ich kann mich nicht erinnern, dass ich solches von einem der Kinder erfahren hätte. Wir waren ja eine kleine Gruppe Gleichaltriger, nur etwa 8, das hätte ich eigentlich erfahren müssen. Ich habe Krull als guten Heimleiter in Erinnerung, nie hatte ich Angst vor ihm. Es stimmt, ab und zu, wenn wir im Bett zu laut waren, mussten wir «sitzen». Das habe ich auch erlebt. Es kam aber auch vor, dass mich «Aba» nach einiger Zeit mit ihm zusammen in seinem Wohnzimmer einen Film hat schauen lassen. Ganze Nächte habe ich jedenfalls nie sitzen müssen. Mein Zimmer war ganz in der Nähe seiner Wohnung. Ich hätte es eigentlich hören müssen, wenn Krull Kinder beim «sitzen» geschlagen hätte. Ich habe nach Deinem Bericht wirklich lange über meine Zeit im Wartheim nachgedacht, es hat mich ziemlich aufgewühlt. An die Geschichte mit dem Glacé mag ich mich gut erinnern. Ich glaube aber nicht dass es Gilli war, sondern ein anderer Junge. Es war eine Mutprobe. Er hatte die Kartonpackung mit 12 oder 24 Racketen-Glacé-Stängeli in der grossen Speisekammer im EG geklaut und Krull hat von ihm verlangt, jedes einzelne zu essen (nicht «die gesamte Kühltruhe»). Dabei habe ich auch gehört, wie Krull gerufen hat: «Schneller, schneller.» Das war definitiv nicht ok, schwarze Pädagogik. Am Schluss rannte dann der Junge zum Waschbecken, wo er sich übergab. Das Ganze dauerte etwa eine Stunde, nicht «die ganze Nacht».

@ lieber Alain. Ich glaube nicht dass Du dabei warst. Du warst ja deutlich älter als wir, bestimmt fünf Jahre. Ich will wirklich nichts beschönigen aber auch meine Erinnerungen sind detailgetreu.

Lieber Rene. Vielleicht magst Du Dich errinnern, dass wir uns oft in die kleine Speisekammer im 1.OG geschlichen haben um dort Schockolade etc. zu klauen. Die Schokoladetäfeli (leider Diabetesschoggi) haben wir dann auf dem Heizkörper geschmolzen und mit farbigem Zucker zu Pralines umgebaut. Auch Trockenfleisch haben wir geklaut, untereinander aufgeteilt und dann bestimmt eine Woche lang auf dem Schulweg daran herumgekaut. Dafür wurde ich nie bestraft. Vielleicht erinnerst Du Dich auch, als wir alle zusammen viel Feuerwerk aus dem Schrank des Personals geklaut und in der Nacht im Wald abgebrannt haben, bis jemand schrie: «Feuerwehr» und wir in Panik zurück in unsere Betten rannten. Das musste Krull bemerkt haben. Es blieb ohne Konsequenz. Einmal verbot uns Krull im Fernsezimmer einen Western («Buffalo Bill») zu schauen, weil unser Wochenkontingent an Filmen schon aufgebraucht war. Darauf hin organisierten wir eine Demo und zogen mit Transparenten, welche «diese Gemeinheit» 😀 anprangerte, gemeinsam Richtung Dorf. Und oft schlichen wir uns in die «Kollonie» wo wir heimlich die Better zu Trampolins umfunktionierten. Für all das wurden wir nie zur Rede gestellt oder gar bestraft.

Auch ich habe einige traurige Erinnerungen. Etwa als mir Gilli mein Sachgeld gestohlen hat und mir dann sagte, wenn was übrigen bleibe, würde ich den Rest zurückbekommen. Ich hatte keine Chance mich gegen Gilli zu wehren und niemand der anderen Kinder hat mir geholfen, denn Gilli war der unbestrittene Anführer. Auch Krull wollte nicht helfen und fand, dass müsse ich selber lösen – als 9jähriger! Das war meine grösse Enttäuschung, welche ich mit Krull erlebt habe. Gilli und seine Freunde haben mich oft geplagt. Ich fühlte mich alleine und ohnmächtig. Wahrscheinlich waren sie eifersüchtig. Ich war zeitweise das einzige Schweizer Kind, durfte einmal im Monat nach Hause und hatte ab und zu mal Besuch. Die deutschen Kinder konnten selten bis nie nach Hause ausser in den Sommerferien und bekamen kaum Besuch.

Es ist nicht lustig, wenn man als Kind viele Jahre in einem Kinderheim verbringen muss statt zu Hause. Jeder von uns hat seine individuelle Geschichte und die damit verbundenen Emotionen vermischen sich mit den Erlebnissen im Wartheim. Ich war viele Jahre im Wartheim und war unglücklich. Das lag aber nicht an Krull und nicht an seinem Personal. Seine Mitarbeiter/innen (an Ueli mag ich mich besonders erinnern) waren immer sehr liebevoll zu uns. Und bei allem Respekt, lieber Harry Wiener, ein strenges pädagogisches Klima kehrte erst ein, als Sie erstmals einen ausgebildeten Erzieher einstellten.

Ich bin heute selber in der Sozialen Arbeit tätig. U.a. begleite ich als Supervisor auch sozialpädagogische Einrichtungen für Kinder und Jugendliche. Mag sein, dass Krull damals in seinem Schmerz als Wittwer und alleinerziehender Vater eines kleinen Sohns auch Fehler gemacht hat und zu pädagogischen Methoden griff, die heute als no go gelten. Um der Ära Krull gerecht zu werden muss aber auch gesagt werden, dass er es auch verstanden hat, ein herzliches Alltagsklima in einem wunderbaren Haus mit einem wunderbaren Umschwung zu gestalten, welches uns Kindern erlaubte Kinder zu sein und Streiche zu spielen die heute bestimmt sofort mit sonderpädagogischen Massnahmen, Ritalin und Versetzungen in strengere Einrichtungen führen würden.
Ich wünsche Dir Rene, dass Du Dich auch an die schönen und lustigen Zeiten erinnern mags, so dass die dunklen Momente nicht weiterhin Dein Leben beeinflussen müssen. Ich bin gerne bereit mit Dir (und anderen von damals) zu sprechen.
LG
Raoul

raro65
02.02.2017

 

Lieber René B.
Ich bekam heute einen Anruf von Raoul R. der sich vor kurzem auch in diesem Blog geäussert und mich dann ‘gegoogelt’ hat. Mich freut es übrigens sehr, wenn ich von ehemaligen Schützlingen etwas höre – sind sie mir doch alle sehr ans Herz gewachsen. In diesem Telefonat erzählte mir Raoul, dass nach meinem Beitrag (Januar 2016) noch weitere Beiträge eingereicht wurden, die ich nun gelesen habe. Es liegt mir fern, Sie, lieber René B. nicht Ernst genommen zu haben. Ihre subjektive Wahrnehmung aus Ihrer Wartheim Zeit ist Ihre unbestrittene Wirklichkeit – aber wie wirklich ist die Wirklichkeit (Watzlawick) und dies meine ich nicht im philosophischen oder psychologischen Kontext, sondern in Relation zu meiner Wahrnehmung (Wirklichkeit). Es tut mir ungemein Leid, dass wir (die Fachleute) Ihr Leiden nicht wahrgenommen haben. Ich erinnere mich noch sehr gut an Sie. Sie waren eher schüchtern und wir alle gaben uns sehr Mühe, Sie aus der Reserve zu locken. Ich erinnere mich auch an die unzähligen Gespräche mit Ihrer ebenfalls schüchternen, aber um Sie sehr besorgten Mutter. In keinem dieser Gespräche wurde die ‘Krul’sche Vergangenheit’ thematisiert (soweit ich mich heute, nach über 35 Jahren noch erinnern kann). Auch die intern tätige Psychotherapeutin (Frau F.), welche auch Gruppengespräche und Einzeltherapien durchgeführt hatte, erwähnte diese für Sie so traumatischen Erlebnisse nie. Leider war es uns nicht möglich, in Ihr verletztes Inneres zu blicken, wofür ich mich bei Ihnen entschuldigen möchte. Wenn ich nach meiner Wartheim Zeit mit Arie, Judith, Lorry, Dani, Jakob…. Gespräche geführt habe, oder indirekt von Rivka, Friederike, oder anderen gehört habe, so waren nie solch traumatische Geschichten das Thema, sondern meist klang es so: ‘wir haben Sie und alle Betreuer ganz schön an der Nase herumgeführt…. 😛 und dann kamen jeweils meist positive Anekdoten aus der Wartheim Zeit auf den Tisch. Dass wir Betreuer Fehler gemacht haben, ist Tatsache – aber eines darf ich Ihnen versichern, wir alle wollten das Beste für unsere Schützlinge.
Ich würde mich freuen, von Ihnen persönlich zu hören (auch von Sigal, Alain und alle anderen, die diesen Blog verfolgen) googeln Sie mich doch einfach 😎
Ich grüsse Sie ganz herzlich! Ihr Harry Wiener

Harwie
02.02.2017

 

Ich muss doch nochmals einsteigen.
Ich gehörte zu den ‘Deutschen’, die Ende der 60er/Anfang der 70er im Wartheim waren.
Auch wenn es sicherlich schwierig war – jeder hatte sein Päckchen zutragen, so kann doch konstatiert werden – dass die jüdische Erziehung, die Bildung im Vodergrund standen; zumal das Wartheim auch unter Aufsicht des Zürcher Frauenverein stand.
Eine Verwahrlosung der Kinder, ein desaströses Auftreten der Heimleitung war in unserer Zeit nicht sichtbar, zugegeben, wir waren sicherlich nicht einfach. Aber den Freiraum, ganz nach dem damaligen Motto von A.S.Neill – Summerhill, konnten und sollten wir nutzen und haben dies auch zuweilen exzessiv getan. Nur dieser Freiraum war für mich, und ich kann auch nur für mich sprechen, so bedeutend, dass mein ursprünglich geplanter 1/2 jähriger Aufenthalt immerhin knapp 5 Jahre anhielt. Ja es stimmt zumindest, dass ich zum Schluss, mein Ausstieg aus Wartheim/Heiden, selbst veranlasste! Mein Besuch der Uni mit Abschluss habe ich einzig dem Wartheim und natürlich mir selbst zu verdanken. Möglich, dass der Tod von Frau Krull, Aba Krull verändert hat, soll aber nicht als Entschuldigung dienen, sondern lediglich ein Versuch, die Zeit von 75ff ein wenig zu greifen – ohne selbst Kenntnis davon zu haben.

Grönland
13.02.2017

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